Lesehighlight 2017: Ruta Sepetys – Salz für die See (Buchrezension)
Guten Abend liebe Leser.
Heute möchte ich euch ein Buch vorstellen, das mich vollkommen aufgewühlt im Lesesessel zurück ließ.
Kennt ihr diese Sorte Geschichten, die einen Schwall intensiver Emotionen hervorrufen, welche euch tagelang beschäftigen und nicht loslassen? Geschichten, die so tief und lange nachwirken, dass man kein neues Buch beginnen kann, sondern erst das Gelesene verdauen muss? »Salz für die See« von Ruta Sepetys ist so ein Buch. Jetzt gerade, beim Schreiben meiner Besprechung zu diesem meiner Meinung nach noch viel zu wenig beachteten Jugendbuch frage ich mich, wie ich angemessene Worte für dieses wortgewaltige Schmuckstück aus dem Programm des Königskinder Verlags finden soll.
Ich versuche es nun also. Zu allererst: Ich schreibe hier über mein erstes Lesehighlight 2017, zugleich mein zweites gelesenes Buch in diesem Jahr, das mich unwiderstehlich zwischen die Seiten zu ziehen wusste.
Salz für die See
Winter 1945. Es ist bitterkalt, die Luft klirrt vor Kälte. Die letzten Tage des Krieges sind angebrochen. Millionen von Menschen befinden sich auf der Flucht vor der Roten Armee und sind bereit, alles auf sich zu nehmen, um zu überleben. Inmitten des harten, gnadenlosen Winters machen sich ein deutscher Deserteur, eine junge Polin und eine Krankenschwester aus Litauen auf den langen, beschwerlichen Marsch Richtung Westen. Die Wege der drei Geflüchteten kreuzen sich, doch der Krieg hat Misstrauen zwischen den Menschen gesät. Ein jeder hat sein Päckchen Schuld zu tragen und so sind die Mitglieder dieses so willkürlich zusammengewürfelten Flüchtlingstrecks nicht bereit, einander ihre verborgenen Geheimnisse zu offenbaren. Auf ihrem Weg Richtung Ostsee müssen sie erkennen, dass der Krieg und seine dunklen Schatten ihnen stets auf den Fersen ist.
Die Königskinder & ihr Gestaltungskonzept
Bevor ich nun näher auf die Story eingehe, möchte ich wie immer gern ein paar Worte zum grafischen Konzept des Verlagsimprints schreiben. Die Covergestaltung des Königskinder Verlages ist nämlich etwas ganz Besonderes und besonders Beachtenswertes. Jedes der bisher erschienenen Frühjahrs- und Herbstprogramme wurde unter einem bestimmten Motto herausgegeben. Während die ersten sieben Königskinder-Bücher eine schwarz-weiß-goldene Farbgestaltung gemeinsam hatten und unter dem passenden Titel ‚Ouvertüre‘ im Herbst 2014 starteten, gehört Ruta Sepetys‘ wunderbare Geschichte zum Herbstprogramm 2016, das aus insgesamt sechs Büchern besteht und dessen Gestaltungskonzept den klangvollen Namen ‚Kaleidoskop‘ trägt. »Salz für die See« trägt ein schlichtes, in dunklen maritimen Farbtönen gehaltenes und damit zum Inhalt wunderbar passendes Coverkleid, das mir auf den ersten Blick gefiel. Suse Kopp, welche sich für die Buchgestaltung der Königskinder verantwortlich zeichnet und bereits für zahlreiche Verlage gelungene Cover gestaltet hat, hat auch hier wieder hervorragende Arbeit geleistet. Nach einem Blick auf den Klappentext stand fest, dass das Buch der Amerikanerin zu 100% in mein literarisches Beuteschema passte und unbedingt gelesen werden musste.
Mein erster Eindruck enttäuschte mich nicht.
Normalerweise mache ich einen großen Bogen um historische Romane – es sei denn, deren Handlung spielt zur Zeit des zweiten Weltkriegs. Schon als Teenager habe ich Anne Franks Tagebuch mehrmals gelesen und beschäftigte mich während der Schulzeit im Rahmen meiner Facharbeit vor dem Abitur intensiv mit dem Thema ‚Justiz im Nationalsozialismus‘. Bis heute lese ich Zeitzeugenberichte, schaue mir häufig Dokumentationen an und tauche in fiktive Geschichten ein, die sich mit dieser dunklen Epoche in der Geschichte der Menschheit beschäftigen.
„Das Schicksal ist ein Jäger.
Über mir dröhnen Motoren. Der Schwarze Tod, so wurden die Flieger genannt.
[…] Eine Bombe explodierte. Der Tod pirschte sich an, griff mit Fingern aus Rauch nach mir.
Ich rannte los.“ – Seite 11
Was damals geschah, darf niemals wieder geschehen. Wie oft gehen mir solche Gedanken dieser Tage durch den Kopf, in einer Zeit, die menschlich wie politisch derart unruhig und aufgewühlt ist. Um ehrlich zu sein, hatte ich etwas Bedenken, zu diesem Roman zu greifen. Ich ahnte, dass die Geschichte nicht spurlos an mir vorüber gehen würde. Oh, wie recht ich damit hatte. Doch diese Lektüre war jede einzelne Sekunde wert!
Ein intensives, aufrüttelndes Leseerlebnis
Wie sehr habe ich mit den Charakteren gelitten, geweint und gebangt! Wort für Wort, Zeile um Zeile. Als ich vor ein paar Tagen die letzte Seite inklusive Nachwort umgeblättert habe, verspürte ich eine tiefgreifende Traurigkeit, die mich zunächst auch nicht mehr losließ. Es vergingen drei Tage, bis ich mich aus diesem Gefühlschaos etwas befreit hatte und beschloss, meine Gedanken zum Buch nieder zu schreiben. Natürlich hatte ich schon beim ersten Blick auf den Titel und die Prägung auf dem Buchrücken selbst geahnt, wohin die Reise mit »Salz für die See« gehen würde, denn der Name Wilhelm Gustloff sowie die Geschehnisse am 30. Januar 1945 waren mir bereits vor dem Lesen geläufig. Leider ist das nicht die Regel, denn dieses Unglück, bei dem Ende Januar 1945 beinahe 10.000 Menschen in der eiskalten Ostsee starben, ist in Vergessenheit geraten.
So sehr mich dieses Buch mitnahm, so sehr hat mich gleichzeitig nachhaltig beeindruckt, wie intensiv sich die Autorin mit den historischen Geschehnissen rund um das tragische Unglück, die Flucht Tausender Menschen und das Schicksal so vieler Menschen auseinander gesetzt hat. Ruta Sepetys trägt selbst litauische Wurzeln in sich und verbrachte eine lange Zeit mit der Suche nach ihrer eigenen Familiengeschichte, welche sie ebenfalls in Büchern verarbeitet hat. Sie reiste kreuz und quer durch Osteuropa, interviewte Überlebende, sprach mit Historikern und Journalisten und ließ mich auf jeder Seite spüren, wie wichtig ihr als Mensch die Botschaft des Buches ist: Wir dürfen nicht vergessen. Diese Beweggründe formuliert sie auch noch einmal im Nachwort, daher sollte man sich dafür unbedingt Zeit nehmen und ihre abschließenden Worte lesen.
Während ich diesen Roman schrieb, belastete mich der Gedanke an die hilflosen Kinder und Jugendlichen am stärksten, weil sie unschuldige Opfer von Grenzverschiebungen, ethnischen Säuberungen und rachsüchtigen Regimen waren. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Hunderttausende Kinder zu Waisen. […] Über diese Kinder wollte ich schreiben, […]“ – Nachwort
Damals, auf der Flucht…
Ich erinnere mich gut an die Momente in meiner Kindheit, als meine eigene Oma von ihrer Flucht vor der russischen Armee sprach, welche Entbehrungen sie auf sich nehmen musste, was sie erlebt und gesehen hat. Einschneidende Erlebnisse, die man auch nach Jahrzehnten nicht vergessen kann und Tränen in die Augen treiben. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf saß ich in meinem Lesesessel, blätterte Seite um Seite um, inhalierte die kurzen Kapitel, las weiter und weiter, atmete zwischendurch kurz durch. Ruta Sepetys‘ oft geradezu schmerzhaft detaillierten Beschreibungen rissen mich tief in die Geschichte hinein – so tief, dass ich oft geschockt war, zu welch grausamen Handlungen Menschen im Krieg gezwungen werden. So viel Verzweiflung, Tod, Angst und Leid ist schwer zu ertragen. Es gab viele Szenen, die meinem Herz einen Stich versetzten, die Hand erschrocken zum Mund fahren ließen und mich zwangen, zwischendurch das Buch kurz pausieren zu müssen. Ja. Krieg ist grausam. Damals wie heute.
Der Schreibstil der Autorin ist gnadenlos mitreißend, intensiv, direkt, schonungslos und gleichzeitig mitfühlend. Ruta Sepetys hat eine ganz eigene, eindringliche und packende Art, die damaligen Geschehnisse mit den Einzelschicksalen ihrer Charaktere zu verweben und damit den Eindruck zu erwecken, als befände man sich mitten im Geschehen. Ich fühlte mich innerhalb kürzester Zeit mit jeder dieser drei Figuren tief verbunden. In kurzen, maximal sechs Seiten umfassenden Kapiteln wechselte die Erzählperspektive chronologisch fortlaufend zwischen diesen drei auf der Flucht befindlichen Protagonisten hin und her, während der Handlungsstrang eines vierten Charakters eine zusätzliche Kontrastfigur einführte, welche sich bereits an einem festen Ort befand und in Gedanken Briefe an einen zurückgelassenen Menschen formulierte. So konnte ich mich bereits nach wenigen kurzen Kapiteln an dieses Erzählen aus multiplen Perspektiven gewöhnen und las atemlos weiter und weiter. Die Tatsache, dass alle Charaktere ihre Sichtweise aus der Ich-Perspektive schildern, intensiviert den Bezug zwischen Figuren und Leser und ließ bis tief in die Seele der Flüchtenden blicken. Einblicke, die nur allzu oft bis ins Mark schmerzten.
„Die Verzweiflung der auf dem Kai zurückgebliebenen Menschen kannte keine Grenzen, sie versuchten panisch an Bord zu gelangen. Sie schrien und flehten mit verzerrter Miene.“ – Seite 312
Bis zum Schluss hoffte und bangte ich um lieb gewonnene Figuren und bin bis zu diesem Augenblick auch noch nicht wirklich in der Lage, mich von Florian, Emilia und Joana vollständig zu verabschieden. Genau das wollte die Autorin mit Sicherheit bezwecken. Ruta Sepetys hat sich mit ihrem Jugendroman Salz für die See, das in seinem thematischen wie auch schriftstellerischen Anspruch aus dem breiten Angebot der Jugendliteratur deutlich hervorsticht, nachdrücklich in mein Gedächtnis geschrieben und erinnert mit Nachdruck an all die Seelen, die seit dieser schicksalhaften Nacht auf dem Grund der polnischen Ostsee ruhen.
Mein Fazit: Ich habe größten Respekt vor der Leistung der Autorin, der es fabelhaft gut gelungen ist, das furchtbare Unglück der Wilhelm Gustloff in diesem Jugendroman mit unglaublich viel Einfühlungsvermögen für Charaktere und Schicksale sowie intensiver Recherchearbeit zur historischen Grundlage zu einer intensiven Geschichte zu verweben. Bei aller Tragik und Traurigkeit entfachte die Autorin wiederum Hoffnung in meinem Herzen und sorgte inmitten des Leids für den Lichtstreif am Horizont: Hilfsbereitschaft, Liebe, Aufopferung, Zusammenhalt – Werte, die gerade heute wieder mehr Stellenwert in der Gesellschaft haben sollten, umschlossen die Eiseskälte und Strapazen der Flucht wie ein wärmendes Band. Danke liebe Ruta Sepetys für dieses fabelhafte Buch. Ich werde es von Herzen weiterempfehlen, denn es gilt mehr als jemals zuvor, sich mit diesem Kapitel unserer Zeitgeschichte zu beschäftigen und dafür zu sorgen, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Uneingeschränkt empfehlenswertes Lesehighlight 2017.
Meine Wertung:
Lesehighlight 2017, Kategorie Jugendbuch
Ruta Sepetys | Salz für die See
Originaltitel: Salt for the Sea | Übersetzung: Henning Ahrens
Königskinder Verlag | 29. September 2016
Hardcover, 416 Seiten | 978-3551560230 | 19,99€
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