Lesehighlight 2016: Matt Haig – Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben (Buchrezension)
Liebe Leser,
Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben. Selten habe ich so um Worte für meine Besprechung gerungen, wie für dieses Buch. Zwei Tage sind vergangen, seit ich die letzte Seite, wie immer mit Danksagungen des Autors, gelesen habe. Zwei Tage, seit ich Matt Haigs Mischung aus Autobiografie, Roman und Sachbuch in mir aufgenommen habe. Eigentlich müsste ich es sofort noch einmal lesen, noch einmal fühlen, endgültig verinnerlichen. Und eigentlich ist der folgende Text auch etwas mehr als nur eine Rezension zu einem Buch, das vor zwei Tagen im dtv Verlag erschien. Danke übrigens an dieser Stelle noch einmal an das Lovelybooks-Team, das mir mit diesem Buchpaket samt weltleckersten Gute-Laune-Zitronenbonbons den Tag & die Woche versüßte.
Hast du ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben?
Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben – dieser Titel ist für mich gleichzeitig eine Frage, auch wenn das Fragezeichen nicht zu sehen ist. Habe ich ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben? Ja, natürlich habe ich die, sonst wäre ich wohl nicht hier. Auch wenn die Antwort auf diese Frage manchmal etwas länger dauert, weil man mal wieder an sich selbst zweifelt, an seinem Wert für andere oder wie auch immer, so beinhaltet sie stets folgende Worte: Meine Gründe, am Leben zu bleiben, sind mein Herzmann & bester Freund, der mit mir durch Dick & Dünn geht, meine Familie und die Freunde, die geblieben sind, und last but not least Bücher und Musik.
Matt Haig hat ebenfalls ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben. Doch bis er Kraft genug hatte, sein Leben zu leben, ging er buchstäblich durch die Hölle. Als Matt 24 Jahre alt war, schlich von heute auf morgen der schwarze Hund der Depression um die Ecke und hinterließ ein Häufchen nach dem nächsten, bis er zum Rand in der… denkt euch diesen Teil einfach. Das schwarze Loch im Boden, der fiese, sabbernde Kobold auf der Schulter, der schwarze Hund, ein Tunnel ohne Ausgang – die Depression hat so viele Gesichter, doch eines bleibt immer gleich: Es ist schwierig, jemandem, der selbst nicht an Depressionen leidet, mit Worten zu vermitteln, wie sich das anfühlt. Depression und allgemein viele psychische Krankheiten sind meistens unsichtbar und daher sehr schwer greifbar.
„Sie ist selbst für die rätselhaft, die daran leiden.“ – Seite 20
Worte finden
Matt Haig findet Worte für dieses oftmals Unbegreifbare. Er spricht aus und schreibt nieder, was mir oft im Halse stecken bleibt. Er nutzt Metaphern, um den Lesern seines Buches zu erklären, wie es sich anfühlt, wenn sich der Himmel über dir mit dichten schwarzen Wolken verdunkelt und du eigentlich gar nicht so recht weißt, warum das passiert und vor allem, warum gerade dir? Du müsstest doch glücklich sein, warum zum Teufel bist du es dann nicht?
„Ein kleines Meisterwerk. Es könnte Leben retten.“ – Joanna Lumley
Möglicherweise kann es das. Auf jeden Fall steht für mich zu 100% fest, dass es Menschen, die unter Depressionen leiden, helfen kann, das Licht am Ende eines Tunnels zu sehen, der auf beiden Seiten geschlossen ist. Und es wird Menschen helfen können, Betroffene im Bekannten- und Familienkreis ein bisschen besser zu verstehen.
Kein Ratgeber. Ein Mutmacher.
»Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben« möchte kein psychotherapeutischer Ratgeber sein – zum Glück. Matt Haig schreibt aus dem Herzen heraus, ohne mit dem Zeigefinger in der Luft herumzufuchteln. Er nimmt dich an der Hand und zieht dich ganz allmählich mit sich, Stück für Stück auf dem Weg zurück ins Leben. Dabei beschreibt der Autor in kurzen, prägnanten Kapiteln auf berührende, intensive Weise, was er im tiefsten Sumpf zwischen Depression und Angststörung empfunden hat. Er schreibt über den Schmerz, die Leere, Antriebslosigkeit, Sprachlosigkeit und Zweifel. Er berichtet von Tagen, in denen das Rauschen im Inneren wie ein Hurrikan tobt und selbst für Tränen die Kraft fehlt. Von Stunden, Minuten, Sekunden, wenn ein winziger „Tropfen Tinte, der in ein Glas mit klarem Wasser fällt“ (Seite 55) ausreicht, den vormals klaren Blick einzutrüben.
Er schüttelt mit Worten den Kopf, wenn jemand mal wieder „Komm, stell dich nicht so an!“ oder „Ist doch alles nur eine Frage des Willens.“ zum Besten gibt. Zwischendurch führt Matt fiktive Interviews aus der Ferne mit seinem damaligen Ich, ermuntert und spendet dabei nicht nur sich selbst, sondern auch dem Leser viel Kraft und Zuversicht. Momente während des Lesens, die ich nickend und immer wieder mal auch mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen stumm kommentierte. Momente, in denen ich am liebsten einen Farbeimer herangezogen hätte, um das Buch zwecks Textmarkierung seitenweise in die Farbe zu tauchen. So behalf ich mir mit einem Textmarker und fuhr mit dem pastellblauen Stift über das Papier – etwas, das ich seit meiner Studienzeit nicht mehr gewagt habe. Bücher anpinseln! Oh Graus!
„Doch Depression ist eine Art Quantenphysik der Gedanken und Gefühle. Sie deckt auf, was normalerweise verborgen ist. Sie löst dich auf und alles, was du je gewusst hast.“ – Seite 52
Fuck Depression. Es gibt Momente, da zweifelst du so sehr an dir, dass alles keinen Sinn mehr zu haben scheint. Auch Matt empfindet diesen Moment, an diesem Tag in Ibiza, auf der Klippe. 20 Schritte bis zur Kante, 21 wollte er gehen. Doch etwas in seinem Inneren hielt ihn zurück: Überlebenswille. Diese Kraft pocht in dir wie ein Bollwerk gegen die Sinnlosigkeit, selbst wenn du am Boden liegst und es ist selbst dann noch da, wenn du dich unendlich leer fühlst.
„Wenn wir wollen, dass es uns besser geht, ist das Einzige, worauf es ankommt, das, was uns hilft. Wenn uns etwas hilft, müssen wir nicht fragen, warum.“ – Seite
Matt spricht von Fakten, zitiert Wissenschaftler, listet Gemütszustände auf, welche ich stumm und abermals nickend mit Bleistift abhakte. Er verpackt all diese scheinbar trockenen Themen mit einem rundherum berührenden, tiefgründigen, authentischen und teilweise auch humorvollen Schreibstil, der mich durch ein wahres Auf und Ab von Emotionen führte. Erneutes Nicken. Leichter als zuvor fiel es mir, gelesene Worte, ja ganze Textpassagen im Gedächtnis zu behalten, denn sie waren zuvor schon ein Teil meiner selbst. Auch heute, einige Zeit danach erinnere ich mich noch immer daran, so als hätte ich sie gerade erst gelesen.
Mit jeder Seite lernte ich Matt Haig und seine Krankheit etwas besser kennen und empfand nach der letzten Seite das hoffnungsvolle Gefühl, nicht allein zu sein. Wenn er dann Buchempfehlungen von Italo Calvinos Die unsichtbaren Städte über Albert Camus Der Fremde* bis Salingers Der Fänger im Roggen gab, mit tiefempfundener Begeisterung von seiner innigen Liebe zur Literatur sprach und von Zeiten berichtete, da er ein Buch nach dem nächsten verschlungen hat, ja spätestens da war der Moment gekommen, an dem mich besser fühlte.
* hier mal als Graphic Novel, steht schon auf der Wunschliste
Fallen. Landen. Aufstehen. Leben.
Dieser Prozess des Fallens, Landens, Aufstehens und Lebens war eine lange, schwierige Aufgabe für den Autor – und ist es nach wie vor. Er war nicht alleine, denn seine Frau Andrea stand alles mit ihm gemeinsam durch. Es bleibt nicht unerwähnt, wie schwierig es ist, mit depressiven Menschen umzugehen. Die Genesung ist ein stetiger, langsamer Prozess und es gibt immer noch diese Tage, in welchen dunkle Punkte im Gesichtsfeld auftauchen. Doch Matt Haig ist ins Leben zurückgekehrt, und das macht Mut. Er schreibt ganz offen über seine Gründe, am Leben zu bleiben: über Liebe und Achtsamkeit, und so viel mehr, das ihn daran erinnert, wie wertvoll eigentlich das Leben auf diesem kosmisch-winzigen blauen Ball im Weltraum ist. Schließlich spricht er den Leser direkt an und ging damit den letzten Schritt direkt in mein Herz.
Ich will das Leben.
Ich will es lesen und schreiben und spüren und leben.
Ich will so viel Zeit wie möglich in dieser kurzen Existenz, die uns vergönnt ist, damit verbringen, alles zu fühlen, was gefühlt werden kann. – Seite 265
Während die Depression für Matt 14 Jahre später eine Randbemerkung ist, ein „Wort in Klammern„, das jedoch niemals völlig ausradiert werden kann, sind Millionen von Menschen weltweit immer noch im Auge des Hurrikans gefangen. Doch dieses Buch, dieses kleine weiße Buch namens »Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben« und seiner so absolut wunderbar passenden Coverillustration könnte einer deiner Gründe sein, am Leben zu bleiben.
Mein Fazit: »Ziemlich gute Gründe am Leben zu bleiben« ist mein persönliches Buch des Jahres – und ja, das kann ich jetzt schon ohne zu zögern aussprechen. Ich habe es, einzig unterbrochen von einer sehr kurzen Nacht, innerhalb von 24 Stunden durchgelesen. Ich empfinde immer noch diese emotionale Mischung aus Dankbarkeit, Schmerz und Freude darüber, dass jemand so formvollendet formuliert hat, wofür mir oft die Worte fehlen. Matt Haig schreibt authentisch, mit Witz aber auch Sarkasmus und all seinem Gefühl über Depression in all ihren Abstufungen. Er hat mit seinem Buch ein beeindruckendes Stück Literatur erschaffen, dass zum einen für Verständnis und Aufklärung sorgt, auf der anderen Seite jenen eine Stimme gibt, die tief in der Dunkelheit verborgen schweigen – oft aus Scham ob des aufgedrückten Stigmas. Selten brannten sich Worte und ganze Textpassagen so intensiv in mein Langzeitgedächtnis wie in diesem Fall. Ich bin froh, dass Matt Haig dieses Buch geschrieben hat, dass es ja eigentlich gar nicht geben dürfte, wie er selbst sagt. Worte befreien. Wie recht Matt Haig damit hat, merke ich spätestens jetzt, da ich die letzten Worte dieser Besprechung tippe. Denn auch auf meiner Schulter sitzt ein schwarzer Kobold. Danke an all die Menschen, die jeden Tag ihr Möglichstes geben, damit ich immer wieder den Lichtstrahl am Ende des Tunnels sehen kann. Jeder braucht jemanden, der ihm sagt, dass es wieder gut wird, der einem Mut zuspricht, wie Matt Haig wieder sagen zu können: „Ich bin froh, dass ich bin.“
Lest. dieses. Buch!
Matt Haig | Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben
dtv Verlag | 18. März 2016 | Roman | Übersetzung: Sophie Zeitz
Hardcover, 304 Seiten | 978-3-423-28071-6 | 18,90€
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