(Lesehighlight 2014) Crystal Chan – Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte (Buchrezension)
Einen schönen Samstag liebe Bücherfreunde,
heute finde ich endlich die Zeit, meine Rezension zu einem neuen Lesehighlight im Bereich Jugendliteratur zu schreiben. Ich bin so überwältigt von dieser Geschichte, welche mir Crystal Chan in den vergangenen zwei Wochen erzählt hat, dass ich erst einmal ein wenig Abstand zum Buch nehmen musste. Man verzeihe mir das. Ich möchte einfach eine rundherum gut durchdachte Rezension abliefern und das braucht einfach Zeit. Am Montag habe ich die 304. Seite umgeblättert, heute schreibe ich nun meine Eindrücke nieder und berichte euch, wie mir »Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte« aus dem Magellan Verlag gefallen hat. Übrigens war es sehr schön, mal wieder mit anderen Buchbegeisterten gemeinsam in einer Leserunde auf Lovelybooks.de zu lesen und auszutauschen!
Buchliebe ab der ersten Seite
Jewel lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Haus mitten in Iowa, zwischen Rosmarinsträuchern, Xolohunden und Papas Versuch, jamaikanische Palmen im Vorgarten zu züchten. Als Jewel geboren wurde, starb ihr Bruder. Seit seinem Tod breiten ihre Eltern ein Teppich des Schweigens über alles und jeden, selbst ihr Großvater spricht kein einziges Wort mehr. Ihr aller Leben hat sich in diesen zwölf Jahren verändert, Trauer liegt wie ein dicker Kloß über allem. Jewel fühlt sich einsam und versucht auf sich gestellt mit der Situation klar zu kommen. Als sie den Nachbarsjungen John kennenlernt, ist sie glücklich, jemanden gefunden zu haben, dem sie ihr Herz ausschütten, interessante Dinge über das Weltall erfahren und auf Bäume klettern kann – und mit welchem sie vielleicht auch ihr kleines Geheimnis teilen kann.
Als ich im Frühling 2014 zum ersten Mal einen Blick auf das Verlagsprogramm des frisch gegründeten Verlags mit dem Wal werfen konnte, war ich absolut begeistert vom Designkonzept der Bücher. Ein Hauch 70er-Jahre Flair wehte mir da entgegen, ein breites Repertoire an Farben, Formen und erfrischender Gestaltung, deren Credo »weniger ist mehr« lauten sollte. Das Cover von »Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte« ist in einem Wort: wunderschön! Verspielte, filigrane Blumenmuster in Kombination mit Prägung und einem an unser Schriftbild während der Schulzeit erinnernden Font harmonieren zu einem gelungenen Buchoutfit.
Es macht richtig Spaß, dieses Buch zu betrachten und über das Cover zu streichen. Ein wahrer Hingucker, zu dem ich im Buchladen sofort gegriffen hätte, um den Klappentext näher unter die Lupe zu nehmen.
Auch die Innengestaltung ist wunderschön, die Motive auf dem Cover finden sich auch auf dem Vorsatzpapier und die Kapitelüberschriften ziert ebenfalls das florale Muster. Die Philosophie des Magellan Verlags nach Nachhaltigkeit und schönen, besonderen Büchern ist hier an jeder Ecke zu spüren. Sehr gelungen! Im Coververgleich zwischen deutscher und englischer Ausgabe schlägt die Gestaltung des deutschen Covers das Original um Längen.
Unbeschreiblich intensive Lektüre!
Ich habe mich mit Crystal Chans erstem Roman nun etwa zwei Wochen lang beschäftigt. Oft las ich eine Passage noch einmal und ließ Chans Worte auf mich wirken. Die Geschichtenerzählerin aus Wisconsin stillte mit ihrer unbeschreiblich gut ausgeprägten Gabe, Gedanken und Empfindungen in Worte zu verpacken, meinen Durst nach einer richtig guten Geschichte zu 100%. Wenn Worte wie Perlen im Sekt im Kopfkino prickeln, Sätze mehrmals gelesen und aufgesogen werden wir ein ausgetrockneter Schwamm, wenn Tränen über die Wangen laufen und Zeilen schlummernde Erinnerungen in mir wecken, dann hat ein Buch mich richtig gepackt.
Ich bin froh, dass Planeten sich nicht dafür interessierten, ob Großväter sprachen oder man einen Freund mit dem Namen John hatte oder ob die Geheimnisse der eigenen Familie bis in die Unendlichkeit zu reichen schienen wie die Atmosphäreschichten der Erde. – Seite 133
Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr ein Buch beendet habt und ihr müsst erst einmal durchatmen, sacken lassen, darüber reflektieren? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn man ein Buch zur Hand nimmt, zu lesen beginnt und bereits nach kurzer Zeit weiß, dass man dieses Buch lieben wird? Genau das hat Crystal Chan geschafft. Sie schreibt intelligent, leicht und lebendig, als ob sie Ton zu einer Vase formt, welche langsam Gestalt annimmt und an allen Ecken und Rundungen Überraschungen parat hält. »Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte« hat sich mit einer lebensnahen, berührenden Story und einer Protagonistin, welche sich durch eine sympathische, natürliche, intelligente und starke Persönlichkeit auszeichnete, in meiner Seele verewigt. Wort für Wort, Zeile um Zeile. Bird ist kein Buch, welches sich so einfach in eine Schublade stecken lässt. Chans Debütroman birgt viele Aspekte in sich: Der Grundton ist traurig und aufwühlend, hoffnungsvoll aber auch schwermütig, leise und dennoch aufmüpfig; im Gesamten betrachtet hielt ich ein sehr sensibles Exemplar junger Literatur in der Hand. Ein Buch, das das Thema Trauerarbeit und den Weg zurück ins alltägliche Leben als eigenständige Persönlichkeit an junge Leser vermitteln möchte, aber auch bei erwachsenen Lesern für nachdenkliche und sehr unterhaltsame Lesestunden sorgen wird.
Das geht einfach bis ins Herz…
Was mich am meisten faszinierte, war Jewels Charakterentwicklung im Laufe der Handlung. Dieses junge Mädchen hat mit seinen 12 Jahren bereits eine sehr schwere Zeit durchlebt, steht einsam und beinahe unbeachtet am Rande der Familie, deren Mittelpunkt nachwievor der verstorbene erstgeborene Sohn ist. Sollte eine Geburt eigentlich ein wunderschönes Erlebnis sein, so war dieser Moment für Jewels Eltern gleichzeitig der traurigste Tag in ihrem Leben. Die damit verbundenen emotionalen Zerwürfnisse, die schwierige, einsame Position Jewels inmitten einer vom Trauer wie gelähmten Familie, deren Alltag von jamaicanischem Aberglauben, Selbstvorwürfen und Schweigen dominiert wird, bringt Crystal Chan auf einzigartig bewegende Weise zu Papier. Das Mädchen erlebt eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle und muss hilflos zusehen, wie ihre Familie den Verlust Birds völlig in sich zurückgezogen betrauert. Jeder Mensch geht mit dem Tod anders um, das ist völlig normal, denn Trauer braucht Zeit. Aber die mangelnde gegenseitige Akzeptanz und das unerträgliche Schweigen, welches über der Familie wie ein schweres, schwarzes Tuch liegt, ließ mich oft schwer schlucken. Umso schöner ist es zu erleben, wie Jewel inmitten dieser zunächst verfahrenen Situation zunehmend selbstbewusster und energischer auftritt. Ich vermag mit Worten gar nicht ausdrücken, wie sehr ich diesen jungen Menschen in mein Herz geschlossen habe. Unglaublich.
Die Sonne ging auf. Die Sonne ging unter. Der Mond ging auf. Großvater war wütend. Aber wahrscheinlich hatte auch ein Mensch verschiedene Schichten, genau wie die Erde, ein Stratum unter dem anderen. Und wenn man nur tief genug grub, stieß man vielleichzt auf die nächste Schicht seiner Persönlichkeit. Manchmal erwartete einen dabei sicher die eine oder andere Überraschung. – Seite 243
Erschwert wird die Situation durch den konträren kulturellen Hintergrund der Familie: Jewels Vater hält eisern an seinem Glauben an eine Geisterwelt fest und trifft damit auf das völlige Unverständnis der Mutter. Dieser Aspekt verlieh der Geschichte einen Hauch von Mystik und führte so manches Mal zu wilden Spekulationen meinerseits über den weiteren Handlungsverlauf und -ausgang. Der Ausflug in die Kultur Jamaicas gefiel mir ausgesprochen gut, lockerte er die Stimmung ein klein wenig auf und sorgte für Abwechslung und lehrreiche Lesemomente. In diesem Zusammenhang merkte man auch, dass die Autorin ihre eigenen Erfahrungen als Familienmitglied mit multinationalen Background in die Story einfließen ließ, denn auch sie selbst hat seit ihrer Kindheit immer einen Platz im Leben gesucht. Es scheint, als habe sie ihren Platz gefunden. Ihre eigenen Erfahrungen gaben der Geschichte den letzten Feinschliff und lassen »Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte« zu einem literarischen Überflieger werden. Danke für diese eindrucksvolle, nachhaltig wirkende Geschichte, die mich mitten ins Herz getroffen hat!
Mein Fazit: Bird ist keine einfache Lektüre, doch reiht sie sich mit ihrem einfühlsamen, wunderbarem Schreibstil, abwechslungsreichem Plot und einer fabelhaften Charakterentwicklung in die Reihe der Jugendbücher ein, die man unbedingt gelesen haben muss. Es geschieht nicht oft, dass mich ein Buch emotional so sehr ergreift und noch Wochen nach dem Umblättern der letzten Seite Gedanken & Gefühle durch meinen Geist rasen, wenn ich an diese Geschichte zurückdenke. Gerade weil sich Bird intensiv mit der Manigfaltigkeit der Trauerarbeit innerhalb einer Familie so intensiv und sensibel auseinandersetzt und dieses Thema somit für junge Leser zugänglich macht, kann ich wirklich nur jedem empfehlen, sich auf Jewels Geschichte einzulassen, denn es lohnt sich. Mein neues Lesehighlight 2014 im Bereich Jugendbuch!