(Kino-Review) Das Schicksal ist ein mieser Verräter | Juni 2014
Was geschieht eigentlich, nachdem man gestorben ist? Kehrt man als Geist wieder zurück? Gibt es einen Himmel? Oder kommt man in die Hölle, wenn man ein schlechtes Leben geführt hat? Antworten auf diese Fragen werden wir wohl nie erhalten. Doch die britische Fantasyautorin Rhiannon Lassiter hat ihre ganz eigenen Schlüsse gezogen und eine Geschichte daraus geformt, die mich das Buch mit einer Gänsehaut zuklappen ließ. Heute, nach einer langen Lesenacht und mit den Eindrücken dieses Buches im Hinterkopf möchte ich euch Eva vorstellen. Eva ist der 13. Gast, der nicht zur Party eingeladen wurde…
Was geschieht hier, was geschieht mit mir?
Evangeline Chance ist 15 Jahre alt und lebt seit dem tragischen Tod ihrer Mutter mit ihrem Großvater auf einem uralten Anwesen in England. Heute ist ihr 16. Geburtstag, doch niemand scheint sie wahrzunehmen. Wo ist ihr Gedeck, ihr Platz an der Tafel? Die Feier findet ohne Eva statt, die einzige Person, welche sie wahrzunehmen scheint, ist ein in schwarz-weiße Diensttracht gekleidetes Hausmädchen. Als Eva langsam zu begreifen beginnt, was vor sich geht, ist die Wahrheit noch viel schrecklicher, als sie sich in ihren schlimmsten Albträumen vorstellen könnte…
»Der 13. Gast« und ich hatten einen, ich möchte mal sagen, eher gemächlichen Start. Als das Buch hier eintraf, war ich von diesem wunderschön gestalteten Cover sehr angetan. Das tiefe Blau, die rote 13 wie mit einem breiten roten Textmarker geschrieben und die weiße Silhouette eines Mädchens vor düsterer, in floralen Ranken eingefasster Kulisse beeindruckte mich und gehört zu den schönsten Covern, die ich bisher betrachten durfte. Glänzender Spotlack betonte die filigranen Details und die grobe Papierstruktur im Hintergrund verlieh dem Ganzen die Wirkung eines Aquarells. Da hat sich der Verlag wirklich Mühe gegeben und das Cover der britischen Originalausgabe bei weitem übertroffen.
Von Geheimnissen, Geistern und Pfauen
Die Geschichte beginnt sehr geheimnisvoll: eine Geburtstagsfeier, ein mysteriöses Dienstmädchen, die schon beinahe skuril wirkende Verwandtschaft und ein zurückgezogen lebender Großvater. Der Plot tat sich auf den ersten 100 Seiten ein wenig schwer damit, mich zu packen, obgleich ich mich sehr auf eine Geisterstory freute und in dieser Form noch kein Buch gelesen hatte. Jeder kennt wohl die „Ghostbusters“ oder den berührenden Film „Nachricht von Sam“. Dieses Buch lässt sich jedoch nicht in eine typische Geister-Schublade einordnen. Es ist keine Lovestory, aber dennoch sehr berührend. Es ist kein blutiger Thriller, aber manche Szenen erschreckten mich doch ziemlich und ließen mein Herz schneller schlagen.
„Wie sollte ich mich denn benehmen? Ich verstehe nicht, wie ich einerseits gestorben und trotzdem immer noch hier sein kann.“
„Das geht uns allen so“, sagte Elsie scharf. „Geist ist bloß ein Wort. Es erklärt gar nichts.“ – Seite 97
Was vergleichweise ruhig begann – und mit der Charaktereinführung stellenweise auch für etwas Verwirrung sorgte – steigerte sich von Seite zu Seite, bis der Plot mit einem wirklich überraschenden Ende seinen endgültigen Höhepunkt erreichte. Schon nach etwa einem Drittel gab die Autorin Gas, jagte mich durch die weitläufigen Zimmer des Anwesens, scheuchte Pfauen durch die Parkanlagen und ließ mich den kalten Atem der Geisterwelt spüren. Pfauen! Ihr habt ganz richtig gelesen. Dieses kleine feine Detail sorgte für einen Hauch Eleganz auf dem angestaubten Gut. Die Idee, diese anmutigen Tiere mit ihren schillernden Schwanzfedern in die Geschichte einzubauen fand ich ganz großartig, ich liebe diese Tiere!
Rhiannon Lassiter konnte mich mit einer wirklich dichten, mystischen Atmosphäre begeistern, zog mich unwiderstehlich zwischen die Seiten und ließ mich bis zum letzten Wort nicht mehr los. Es fühlte sich an, als würde eine kühle Hand auf der Schulter liegen, langsam kroch die Eiseskälte aus den Buchdeckeln und ließ mich mehr als nur einmal erschauern. Ich lauschte dem gellenden Kreischen der Pfauen und riss immer wieder erstaunt die Augen auf, wenn mich die Autorin mal wieder überraschen konnte. Mehr als einmal setzten geschickt platzierte Wendungen den Geschehnissen das Sahnehäubchen auf und verliehen der Story ihre unvergleichliche Note. Wortgewaltig und mit sehr feinfühliger Charakterzeichnung führte mich die Autorin ich durch die Seiten, oft genug stockte mir der Atem und ich konnte das Buch wirklich kaum aus der Hand legen. Ich bin wahrlich begeistert von diesem etwas anderen Krimi; eine pfiffige Idee, die mir so noch nicht begegnete und die einfach mal erfrischend anders in der Jugendbuch-Sparte für spannende Lesestunden sorgte.
Er musste gegen das unheimliche Gefühl ankämpfen, dass dieses Haus lebendig war und ein schwarzes Herz darin schlug und dunkle Wellen durch die Flure schickte, die die Menschen mit Wogen der Angst überrollten. – Seite 301
Evangeline, genannt Eva, verkörpert ein stilles, in sich zurückgezogenes Mädchen, eine Außenseiterrolle jenseits von Modepüppchen, die sich nur um die Nagellackfarbe für den nächsten Tag Gedanken machen. Sie ist einsam, wurde zu Lebzeiten gemobbt und war nicht wirklich beliebt – und sie ist tot. Selbst ihre Familie scheint sich nicht wirklich um sie zu kümmern, sie ist das schwarze Schaf und kaum jemand nimmt sie wahr, selbst nach ihrem Tode nicht. Mit dieser Charakterzeichnung greift die Autorin das Thema Mobbing auf, kombiniert es mit einer spannenden Suche nach einem (oder mehreren?) Mörder(n), der Suche Evas nach ihrer eigenen Todesursache und schleuderte mich so mitten hinein ins Geschehen. Ich habe mich gefühlt, als würde ich selbst durch diese Räume rennen, über die dicken, verstaubten Teppiche, vorbei an schmutzverschmierten Vorhängen und Tapeten, die unerklärlicherweise nicht sauber werden. Hinunter in einen finsteren, modrigen Keller, tiefschwarz wie ein Fluch, verfolgt von anderen Wesen, deren Haltbarkeitsdatum schon lange abgelaufen ist. Die Autorin machte sich intensiv Gedanken darüber, wie sie îhre Figur gestalten möchte, die nur noch ein eisiger Hauch, das Abbild einer menschlichen Gestalt, eine durchsichtige Silhouette in unserer Welt ist und sich nur mit Willenskraft bewusst zu materialisieren vermag. Es war sehr spannend zu lesen, welche Hindernisse man als Geist überwinden muss. Mit eindrucksvoll, farbigen Worten beschrieb Lassiter, wie ein Geist empfindet, wenn er mit seinen Händen durch eine Tresorwand greift oder sein Körper ohne Widerstand durch eine Holztür gleitet.
Was einstmals Adeline gewesen war war jetzt der körperlose Rest einer Persönlichkeit, die kaum einen Gedanken vom anderen trennen, kaum Gefühle in Worte fassen konnte. – Seite 225
Wenn Hass übermächtig wird…
Für den besonderen Thrill sorgte das Buch mit Hilfe der Perspektivenwechsel zwischen Protagonistin Eva und den Zwillingsgeschwistern Kyra und Kyle. Die Autorin verwebt all diese Erzählstränge im Laufe der Handlung immer enger miteinander. So offenbaren sich nach und nach die Hintergründe und Geheimnisse rund um das Geschlecht der Chances. Wir tauchen tief in die Vergangenheit ein und erfahren düstere Details aus dem Stammbaum einer Familie, deren Name auf so vielfältige Art interpretiert werden kann. Zufall, Glück, Möglichkeit, Fügung? Was beherrscht diese Familie seit vielen Jahrzehnten, ist es Schicksal? Das erfahre ich als Leser erst nach einer Weile, die Autorin spielt mit diesen Interpretationsmöglichkeiten und die Auflösung entlockte mir wiederum einen wahrlich überraschten Ausruf, der mich das Buch auf die Knie sinken ließ.
„Mensch, damit hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet! Genial!“
Chapeau Miss Lassiter, Sie haben mich mit diesem ganz besonderen Krimi wirklich vortrefflich unterhalten können und ich freue mich sehr auf ein weiteres Buch aus Ihrer Feder! Über ein paar kleinere Logikfehler wie das sehr verspätete Eingreifen der örtlichen Polizei sehe ich nun einfach mal hinweg, weil mich dieses Buch mit all seiner sprühenden Energie einfach fasziniert und diese Schönheitsfehler allein schon dadurch ausgebügelt werden.
Rhiannon Lassiter | Der 13. Gast | Original: Ghost of a Chance, Oxford Unity Press 2011
Fischer KJB | März 2013 | ab 12 Jahren
Hardcover, 448 Seiten | 978-3596854936 | 14,99€
zum Buch beim Verlag
Mein Fazit: Ein mysteriös-gespenstiger Jugendkrimi, der mit sprachlicher Eloquenz, intensiv-düsterer Atmosphäre und vielen, inhaltlichen Höhepunkten für reichlich Unterhaltung sorgte! Unbedingte Leseempfehlung für alle Fans von Geisterstorys im Besonderen und spannenden Jugendbüchern im Allgemeinen – nicht nur für die Zielgruppe ein wahrer Pageturner!
Meine Wertung: 5