Jacqueline Kelly – Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen (Buchrezension)
Liebe Buchfreunde,
lasst mich euch auf eine Zeitreise mitnehmen. Wir reisen zurück zum Ende des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt ins Jahr 1899. Nur noch einige Monate trennen das Jahr vom Sprung ins nächste Jahrhundert. Wir stehen mitten im Bundesstaat Texas, nicht weit von Austin entfernt. Es ist heiß, stickig. Staub bedeckt die Kutsche am Wegesrand, in der Ferne wogen die wollweißen Flauschkugeln der Baumwollfelder im Wind. Am Rand dieses Feldes steht ein großes Haus mit einer breiten Treppe vor dem Haupteingang. Und auf dieser Treppe sitzt ein junges Mädchen neben einem alten, weißbärtigen Mann. Der vollständige Name dieses Mädchens lautet Calpurnia Virginia Tate, kurz Callie Vee. Sie ist die Hauptfigur in meinem soeben beendeten Buch, das auf den klangvollen Titel »Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen« hört. Es ist das Debüt der US-Autorin Jacqueline Kelly, erschien im Herbst letzten Jahres bei den Hanser Literaturverlagen und hat mich nachdrücklich beeindruckt. Warum das so ist, möchte ich euch nun berichten.
Sommer 1899, im Bundesstaat Texas.
Calpurnia ist beinahe 12 Jahre alt und eine kleine Rebellin. Benimmschule, Kochen, Stricken oder Klavierspielen ist nicht das, was ihren Vorstellungen einer aufregenden, sinnvollen Beschäftigung entspricht. Sie streift viel lieber mit ihrem Großvater, einem zurückgezogenen Forscher und Tüftler, durch die Natur rund um das Anwesen, beobachtet Flora und Fauna und notiert ihre Entdeckungen in ein kleines Notizbuch. Ihre Mutter würde es bevorzugen, wenn sich das junge Mädchen auf ihre Einführung in die Gesellschaft konzentrieren würde, doch Callie Vee hat andere Pläne. Sie würde ihre Nachmittage am liebsten mit Schmetterlingsköcher bestückt am Fluss und im Laboratorium oder in der Bibliothek ihres Großvaters verbringen, denn er öffnet ihr die Pforte zu unbegrenztem Wissen, wie Darwins Theorien, den Gesetzen von Raum und Zeit und vielen weiteren wichtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Calpurnia entdeckt, dass das Leben so viel mehr zu bieten hat außer hauswirtschaftliche Pflichten.
Wunderschön illustrierte Buchperle
Dieses Debüt aus der Feder einer Ärztin und Juristin hat mich unglaublich positiv überrascht. Das begann schon mit dem Zeitpunkt, als ich das Cover in der Herbstvorschau des Hanser Verlags entdeckte. Die zarten Illustrationen im Stile einer botanischen Enzyklopädie hätten nicht passender sein können und gefielen mir auf Anhieb wahnsinnig gut. Auch das Innenleben des Buches strahlt nur so vor gestalterischer Schönheit. Kapitelüberschriften wurden umrahmt, kleine Zeichnungen von Tieren und Pflanzen tummeln sich auf den Seitenrändern, während die ersten Initialen eines Kapitels stehts in einer sanft geschwungenen Schriftart hervorgehoben wurden. Der Verlag hat sich unglaublich viel Mühe mit der Gesamtgestaltung des Buches gegeben, eine echte Buchperle.
Zeitreise in eine Epoche des Umschwungs
Zarte botanische Illustrationen verschönern das Innenleben ♥
Dieser erste Eindruck setzte sich auch mit dem Lesen der Geschichte fort, denn Jacqueline Kelly hat mich mit ihrem Buch absolut verzaubert. Angesiedelt Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Anwesen mitten in Texas, zog sie mich mitten hinein in ihre lebendig gewordene Kulisse eines gut betuchten Anwesens, umgeben von weitläufigen Baumwollfeldern, deren raschelnden, weißen Wattebäusche ich förmlich zu hören glaubte. Dienstboten erfüllen den Bewohnern des betuchten Hauses alle Wünsche.
Es ist eine Zeit, in der es sich für Mädchen nicht gehört, harte Feldarbeit zu leisten. Vielmehr ist es für ein Mitglied ihres gesellschaftlichen Standes absolut unvorstellbar, statt Heirat und Familiengründung – inklusive aller damit verbundenen hauswirtschaftlichen Pflichten – lieber an einer Universität zu studieren. Zwar beginnt sich allmählich etwas in den Mühlen festgezurrter Verhaltensweisen zu bewegen, doch noch schwelt der Gedanke von Rassen- und Geschlechtertrennung in den Köpfen der Menschen. Momente, in denen Calpurnias Mutter nervös zusammenzuckte, als ihre Söhne Scott Joplin auf dem Klavier spielten, oder Küchenfee Viola ihren Schützling Calpurnia beim Unkraut jäten auf dem Baumwollfeld ertappte und schnell ins Haus scheuchte, untermauern dieses Gesellschaftsbild.
Protagonistin zum Verlieben
Calpurnia wächst als eines von vier Geschwistern und gleichzeitig als einzige Tochter des Hauses auf. Getragen von einer wunderbar leichten, wohlformulierten Schreibe fühlte ich mich in eine andere Zeit, in eine andere Welt versetzt. Die Autorin hat sehr gründlich für ihr Erstlingswerk recherchiert, achtete auf einen zeitgemäßen Sprachduktus, der jedoch keineswegs anstrengend zu lesen war. Vielmehr sorgte er in Verbindung mit der dichten Atmosphäre und einer klugen, sympathischen Charakterzeichnung für intensives Lesevergnügen, dem ich mich nicht zu entziehen vermochte.
»Damit du ein bisschen Lektüre in der Verbannung hast«, sagte er. […] Ich nahm Sandwich und die ‚Großen Erwartungen‘ und sank mit dem Gefühl von allerfeinstem Luxus ins Bett. Ahhh – ein Bett, ein Buch, ein Kätzchen und ein Sandwich. Mehr brauchte man im Leben eigentlich nicht. – Seite 64
Jacqueline Kelly erschuf eine aus der Masse herausragende Mädchenfigur, die sich im Laufe der Geschichte zu einer wissbegierigen, zielstrebigen jungen Dame entwickelte, welche lieber ein Junge wäre, sollte dies der Preis für Gleichberechtigung sein. Während ihre Altersgenossinnen noch mit Klöppeln und Topflappen häkeln beschäftigt waren, wäre Callie Vee lieber heute als morgen erwachsen, forschte und hinterfragte, studierte und analysierte die Welt um sich herum nach logischen, wissenschaftlichen Aspekten. Das ist jedoch v.a. ihrer Mutter ein Dorn im Auge, die ihrer Tochter all das ermöglichen möchte, was ihr nach den Verlusten des Krieges nicht vergönnt war. Calpurnia spürt das zunehmend, während in ihrem Kopf Engelchen und Teufelchen einen kleinen Kampf zwischen Freiheitsdrang und Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie ausfechten.
Es war ein wahres Vergnügen, ihre Entwicklung inmitten einer Welt zu verfolgen, die selbst im Umbruch begriffen war. Das erste Telefon, das erste Automobil, Eisenbahnen, die weite Landesteile miteinander verbanden, Kommunikation über weite Strecken – die Menschheit begann, sich Dinge zu erklären, wissenschaftlich zu erforschen und zu entdecken. Es ist die Epoche von Darwin, Edison oder Dickens. Dieses junge Mädchen ist das Sinnbild dieser im Umschwung befindlichen Gesellschaft.
»Wieso muss ich eigentlich handarbeiten und kochen lernen?« […] »Was ist das denn für eine Frage?«, antwortete sie nur […].
Du lieber Himmel, was für eine traurige Reaktion! War die Antwort denn ein so fest verankerter Teil unserer Art zu leben, dass niemand überhaupt einmal innehielt, um auch nur über die Frage nachzudenken? Wenn die Menschen in meiner Umgebung nicht einmal die Frage verstanden, dann konnte es keine Antwort darauf geben. Und wenn es keine Antwort gab, dann war ich verdammt zu einem Leben, das ausschließlich aus solchem Frauenkram bestand. – Seite 217
Band 2 | ET 27.7.2015
Kelly bediente sich hier und da künstlerischer Freiheiten, sei es bei der Interpretation von historischen Ereignissen oder botanischen Begriffen. Dies dürfte wohl nur studierten Botanikern und Historikern, welche die texanische Geschichte in allen Details auswändig kennen, auffallen. Jacqueline Kelly lebt selbst in Austin / Texas, recherchierte vor Ort und brachte den texanischen Sommer des Jahres 1899 so farbenfroh in mein Lesezimmer, dass ich alles um mich herum ausblendete. Sie hat eine sehr atmosphärische Geschichte erschaffen, die mich von Seite zu Seite fester umarmte und nicht mehr losließ, bis ich das letzte Wort der Danksagung gelesen hatte. Ihre Hauptfigur wuchs mir so sehr ans Herz, dass es mir unglaublich schwer fiel, mich von diesem Buch zu verabschieden. Zum Glück währt der Abschied nicht lange, denn im Juli erscheint bereits der zweite Band rund um die clevere Protagonistin und widmet sich unter dem Titel »Calpurnias faszinierende Foschungen« dieses Mal der Tierwelt.
Informationen zur Reihe:
→ Band #1 Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen
→ Band #2 Calpurnias faszinierende Forschungen – Juli 2015
Jacqueline Kelly | Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen
Übersetzung: Birgitt Kollmann | Original: The Evolution of Calpurnia Tate
Hanser Literaturverlage | 25. Februar 2013
Hardcover, 336 Seiten | 978-3446241657 | 16,90€
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Mein Fazit: Jacqueline Kelly schrieb sich mit ihrem Debüt »Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen« direkt in mein Herz. Sie überzeugte mich mit einer klugen, sympathischen, liebevoll gezeichneten Protagonistin und entführte mich mit einer gut durchdachten Geschichte in die atmosphärische Epoche des endenden 19. Jahrhunderts. Es fiel mir schwer, Abschied zu nehmen, hinterließ dieses Buch solch ein ebenso unbändiges Verlangen, nun selbst weiter in den historischen Ereignissen dieser Zeit forschen zu wollen. Ich kann es kaum erwarten, mit dem zweiten Band erneut durch die Zeit zu reisen und an der Seite von Miss Calpurnia Virginia Tates unseren gemeinsamen, unermüdlichen Wissensdurst zu stillen. Volle Punktzahl für dieses wundervolle Jugendbuch, das ich Groß wie Klein, Alt und Jung ans Leseherz legen möchte. Diese zeitlose Abenteuerreise in die Vergangenheit lohnt sich sehr, nicht zuletzt ob seines Denkstoßes, die eigenen Träume trotz aller Hindernisse zu verwirklichen.
Calpurnia symbolisch:
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